Vorwort:
“Mami, bist du sicher?” “Ja, bin ich.”, sagte sie bestimmt und in sich ruhend. Er nimmt es hin, sagt nichts weiter dazu. Er kennt sie. Hat sie sich einmal entschieden, ist kein Entkommen und es gibt kein Zurück. So war sie schon immer … Maximilian Sommerhoff
Kapitel I
-1992-
“Ich will hier nicht weg!" "Gerade jetzt habe ich eine gute Freundin gefunden.”, klagte die dreizehnjährige Dani gegenüber ihrer Mutter. “Es ist auch so weit weg." Ich will in keine andere Schule. "Wer weiß, wie die drauf sind, da drüben im Westen.” Ihr war mulmig.
Dreizehn Jahre lebte sie nun in diesem Stadtteil Rostocks - in Schmarl. Ja, es war kein schöner Ort. Graue Blöcke, in Wohneinheiten untergebracht, egal wo man hinsah. Es war grau.
Mittlerweile allerdings waren die Außenfassaden vollgesprayt. Jugendliche hatten wohl genug vom grauen Stil des Ostblocks.
Schöner wurde es dadurch jedoch nicht unbedingt, denn nicht Künstler machten sich ans Werk, sondern lebten junge Leute eher ihre Wut und Zerstörung aus. Demonstrationen fanden statt und Papa hatte auf Grund von Mangel an Arbeitsplätzen als mittlerweile vorübergehender Taxifahrer auch keinen Spaß mehr, da er regelmäßig eine Knarre im Gesicht hatte.
Aus stattfindenden Demonstrationen wurde sie sogar manchmal aus dem Schulunterricht gerissen. Aufregend war es schon. Ältere Kinder aus höheren Klassen kamen in die Klassenzimmer gestürmt, jubelten und schrien: “Es geht los.” Die Lehrer guckten ziemlich blöd aus der Wäsche, weil sie nichts dagegen unternehmen konnten.
Vollständiges Chaos.
Wir, Kinder, wurden mitgerissen und liefen allesamt in den Nachbarort Lütten Klein oder auch nach Lichtenhagen, in dem die Märsche stattfanden. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, denn meine Eltern sprachen kaum über das Geschehen. Eher schnappte ich mal etwas auf, wenn ich den Gesprächen meiner Eltern lauschte. Die Neugierde war schon immer sehr groß. Zu gerne steckte ich die Nase in erwachsene Angelegenheiten, besonders auch, wenn Familienfeiern bei den Großeltern im Hochhaus von Omi und Opi, den Eltern von Mama, stattfanden.
Ich liebte besonders das Büro von Opa Johannes. Es war nicht nur das volle Bücherregal, sondern die Atmosphäre darin, der Schreibtisch, die Blätter, die Brillen darauf und die Ordnung, die sich auf diesem befand. Ich wusste, wie intelligent Opi war. Sie hatten auch ein Telefon und einen Trabant. Das hatte man nicht einfach so. Zudem waren sie immer gepflegt. Sie sahen hübsch aus, jeden Tag, ohne Ausnahme, waren gut gekleidet und lebten ein Leben in starrer Disziplin.
Nach der Wende herrschten in Rostock, wie in vielen anderen Städten Ostdeutschlands, tiefgreifende, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche. Die Wiedervereinigung brachte große Herausforderungen mit sich, darunter Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und eine allgemeine Unsicherheit über die Zukunft. Diese Spannungen führten zu verschiedenen Protesten und Demonstrationen.
Ein besonders tragisches Ereignis waren zum Beispiel die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Dort griffen mehrere hundert Randalierer, teilweise mit rechtsextremem Hintergrund, die **Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST)** und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter an. Die Angriffe wurden von bis zu 3000 applaudierenden Zuschauern begleitet, die den Einsatz von Polizei und Feuerwehr behinderten. Die Gewalt eskalierte, als das Wohnheim mit Molotowcocktails in Brand gesteckt wurde, während sich noch über 100 Menschen darin befanden. Die Polizei zog sich zeitweise zurück, sodass die Eingeschlossenen schutzlos waren. Dieses Ereignis gilt als eines der massiv rassistisch motivierten Angriffe in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Neben Lichtenhagen gab es auch in anderen Stadtteilen Rostocks fremdenfeindliche Übergriffe. In **Schmarl**, dort lebte ich, einem Stadtteil im Nordwesten Rostocks, überfielen Jugendliche im Oktober 1991 mehrfach ein Asylbewerberheim. Diese Ausschreitungen standen im Zusammenhang mit der damals hitzigen **Asyldebatte**, die von Politik und Medien oft populistisch geführt wurde. Die steigende Zahl von Asylsuchenden und die wirtschaftlichen Unsicherheiten führten zu einer Radikalisierung bestimmter Gruppen, die sich in gewalttätigen Protesten äußerten.
Eine besorgte Stimmung empfand ich bei den Erwachsenen. “Irgendwas stimmt nicht.", dachte ich oft.
Greifbar war es jedoch nicht, nicht für mich. So klein. Ebenso weniger verständlich, denn eigentlich war doch Vieles besser nach der Wende. Wir hatten mittlerweile einen Farbfernseher, die Auswahl von Lebensmitteln und sämtlichen anderen Produkten des täglichen Lebens waren überaus groß geworden. Es wuchsen auf einmal Geschäfte, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. Sogar ein McDonalds war fußläufig zu erreichen. In Lichtenhagen. Und hatte ich hatte endlich eine wahrhaft gute Freundin. Yvonne.
Sie war zwar bereits seit der ersten Klasse unter den Mitschülerinnen, aber gehörte Yvonne zu der fleißigen und artigen Fraktion. Mein Händchen waren eher die Mädels, die nur Flausen im Kopf hatten. Alles andere war mir zu langweilig. Allerdings war ich damit auch nicht immer glücklich. Intrigen und Kämpfe fanden in der Clique statt. Warst du nicht von Natur aus ein ekelhaftes Miststück, warst du dran. Ob mit Messer, die Haare wurden mir abgeschnitten oder auf anderer Ebene. Es ging um das Bestehen in der Clique, stets durch Herausforderungen und Durchsetzungskraft untermauert. Irgendwann erkannte ich, dass dieser Umgang miteinander nichts mit Freundschaft zu tun hatte, doch mussten so einige Jahre vergehen.
“Und jetzt, wo ich endlich eine gute Freundin gefunden habe, wollen wir in die Nähe von Hamburg ziehen." "Na toll.", dachte ich, bockig und traurig zugleich.
Mama wollte schon immer in den Westen.
Sie träumte von einem Haus mit Garten. Sie liebte den Garten von den Eltern von Papa in Warnemünde, wobei sie diesen, also Omi und Opi, auch gleichzeitig verabscheute. Diese Gründe sind erstmal irrelevant. Es war zwar nur ein kleiner Garten, aber mit Pool, wunderschönen Pflanzen, Gemüsebeeten und einer Hollywood-Schaukel.
Da sitzt Mama noch heute drauf, wenn wir da sind. Heute, ist es ihre eigene.
Dani liebte den Garten bei Omi § Opi ebenso, nicht weit weg vom Meer. Wenn sie in den Ferien dort längere Zeit verbringen durfte, bekam sie die Seite des Bettes von Opi Hans neben ihrer geliebten Oma Margit. “Das Federbett ist so dick, dass nur noch ein Bett zu sehen ist." Kuschelig, größer als ich und wie in einem Märchen eingebettet fühlte es sich unwahrscheinlich gut an.
“Auch das soll ich nun verlassen.”, murmelt sie mit nicht ganz 13 Jahren in Trauer darüber, bald nicht mehr hier zu sein.
BREAK.
„All die Gespräche über den Kapitalismus deuten symptomatisch darauf hin, dass eine wachsende Intuition existiert, wonach die heterogenen Übel – finanzielle, wirtschaftliche, ökologische, politische, soziale – um uns herum auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt werden können.“ Das Zitat stammt aus Nancy Frasers Artikel Behind Marx’s Hidden Abode: For an Expanded Conception of Capitalism in der New Left Review (2014).
Was genau ist eine Wurzel.
Eine Wurzel mit der Natur verglichen ist zuallererst ein blöder Baum, der jedoch nicht blöd ist, sondern einfach nur stumm. Ein Baum hat eine Wurzel unter der Erde, die sich mit anderen Bäumen ganz eigensinnig, ohne zu fragen, verbindet. Nach oben hat ein Baum eine Krone, die mit den Vögeln connected, die sich ganz frech auf die Äste setzen.
Der Baum ist über seinen Stamm mit einem Wurzelsystem verbunden, das tiefer und weiter reicht als seine Krone. Selbst wenn der Baum gefällt wurde, lebt der sogenannte Baumstamm weiter – er geht Verbindungen mit Pilzen, Moosen und anderen Organismen ein und wird so Teil eines unterirdischen Kommunikationsnetzes.
Ohne Wurzel - keine Krone, ohne Krone - trotzdem die Wurzel.
Ein Baum, weiß wer er ist. Er hinterfragt eigene Identität nicht. Er kennt seine Zugehörigkeit und auch die Gemeinschaft. Vor allem kennt ein Baum seine eigene Vielfalt.
Dem Baum ist egal, neben wem er wohnt. Die Stämme sind einem Baum so egal, wie der Mensch. Ob Nadel- oder Laubbaum, ob kleiner, großer Busch oder eine Blume - ein Baum hilft, ohne zu fragen, wie die politische Einstellung ist. Ein Baum kennt sich selbst.
Zerstörung kennt der Baum nicht. Der Baum kennt jedoch jeden Einzelnen, der oder die jemals auch nur einen Ast oder ein Blatt von ihm entfernt haben.
Ein Baum kennt auch keinen Wechsel der Zugehörigkeit, den zum Beispiel der erste Weltkrieg unter Menschen verursachte.
Flucht kennt ein Baum auch nicht, den zum Beispiel die Deutschen selbst im zweiten Weltkrieg erleben durften.
Ein Baum kennt keine Gewalt, keine Manipulation und auch keinen Wettbewerb.
Der Baum ist ein Baum und bleibt ein Baum.
Bücher sind großartig. Der Wald jedoch kann auch kommunizieren, hat Grips, versteht Poesie, Musik, Kunst, Kultur und spricht aus meiner Sicht die klarste und ehrlichste Sprache.
“Lege dich nie mit einer Mutter an, denn sie geht spazieren.”
Daniela Sommerhoff
